Durchgangslager für deutsche Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Villmar
Erinnerung nach 60 Jahren im Jahre 2005

Von Lydia Aumüller
Im Zweiten Weltkrieg war in Villmar eine Kompanie für technische Gase stationiert. Ihr Standort befand sich im Steinbruch „Über Lahn", und dort waren auch Truppenunterkünfte errichtet worden. Einen Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner, am 26. März 1945, erhielt diese Wehrmachtseinheit den Befehl, ihren Standort zu verlassen und sich nach Bayern abzusetzen. Damals ahnte niemand, dass die verwaisten Unterkünfte der deutschen Soldaten nach dem Ende des Krieges und der bedingungslosen Kapitulation als Durchgangslager für deutsche Flüchtlinge und Vertriebene bereitgestellt werden mußten. Trotz aller Nöte und Verluste, die der Krieg verursachte, ist es für diejenigen, die Haus und Hof behielten, kaum nachzuvollziehen, was Deutschen angetan wurde, nur weil sie Deutsche waren. Sie mussten alles Eigentum aufgeben, konnten kaum persönliche Habe retten und kamen in ein Land, das durch den Krieg ausgeblutet und arm geworden war. Von Ausnahmen abgesehen, waren die deutschen Vertriebenen für viele damalige Zeitge­nossen Fremde im Vaterland, die nicht mit Freude willkommen geheißen wurden. Trotz aller Not gab es im Jahre 1945 jedoch keinen Zweifel daran, dass nicht nur die Gürtel enger geschnallt, sondern dass auch die Familien enger zusam- menrücken mussten, damit Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene wieder ein Dach über dem Kopf erhielten. Die ehemaligen Wehrmachtsbaracken in Villmar (Bild, Vordergrund) wurden deshalb bald einer neuen Ver­wendung als Durchgangslager für vertriebene Deutsche zugeführt.
Die ersten Flüchtlinge kamen am 23. Juni 1945 aus Oberschlesien nach Villmar und wur­den behelfsmäßig in den Baracken untergebracht. Bei Annäherung der russischen Front waren sie aus Leobschütz in Richtung Westen geflohen. Dafür benutzten sie einen Lastkraftwagen, der bisher für die Versorgung der Bevölkerung mit Milchprodukten be­stimmt war. Das Ehepaar Julius und Paula Kaul mit vier minderjährigen Buben sowie Margarethe Bartsch. mit zwei Kleinkindern schafften die Flucht bis nach Österreich, wo ihnen der Wagen abgenommen wurde. Daraufhin nahmen sie das Angebot des Zirkus Sarassani zur Mitfahrgelegenheit in Anspruch. Nach abenteuerlicher Weiterfahrt endete ih­re Odyssee im Landratsamt Limburg. Hier machte sie ein Behördenangestellter auf die leerstehenden Baracken aufmerksam. Sechs Monate später, im Januar 1946, rich­tete die Behörde offiziell in den noch vor­handenen Stein- und Holzbaracken der früheren Wehrmacht im Steinbruch „Über Lahn" für die zu erwartenden Vertriebenen-Transporte das Durchgangslager ein. Mit der Leitung der Verwaltung des Lagers durf­te auf ausdrückliche Anweisung der damali­gen USMilitärregierung nur eine Persönlichkeit betraut werden, bei der eine politische Belastung aus der NS-Zeit nicht vorlag. Mit dem Steinmetz-Techniker August Falk (Bild), der bereits vor 1933 Gemeindevertreter in seinem Heimatort Villmar gewesen war, wurde ein geeigneter Lagerleiter in die Pflicht genommen. Seine Funktion führte er zum Wohle der vielen Lagerinsassen und auch zur Zufriedenheit der Behörden aus.
Die medizinische Versorgung der ankommenden Männer, Frauen und Kinder übernahm der in Villmar praktizierende Arzt Dr. Lothar Arthen. Dabei fand er Unterstützung durch zwei hauptamtliche Rote-Kreuz-Schwestern, für die im Lager eine Wohnung eingerichtet war. Als weitere Hilfskräfte für die Betreuung der Durchreisenden fungierten die DRK-Helferinnen Thea und Else Löw, Dora Flach und Margot Werner sowie Hilde Brahm aus Villmar. Für die Zubereitung und Ausgabe der Gemeinschaftsverpflegung sorgte der Koch Willi Neff unter Mithilfe von Willi Stemmler, ebenfalls aus Villmar.
Der erste große Transport mit 1200 Ausgewiesenen aus dem Sudetenland kam, nach Angabe des Oberlahn-Flüchtlingskommissars Otto Höhler, am 8. Februar 1946 in Weilburg an. Er wurde je zur Hälfte in die Lager Villmar und Weilmünster weitergeleitet. Nach der Registrierung und der notwendigen hygienischen und medizinischen Versor­gung erfolgte durch den Kreisflüchtlingskommissar die Zuweisung auf die einzelnen Gemeinden des Kreises Limburg. Der Aufenthalt im Lager Villmar betrug durchschnitt­lich zwei bis drei oder mehrere Tage. Dann brachten Lastkraftwagen die Heimatvertriebenen mit ihren wenigen Gepäckstücken in die vorgesehenen Städte und Dörfer. Der jeweilige Bürger­meister war für die Bereitstellung von Wohnraum sowie die Versorgung mit Lebens­mittelkarten, Bezugsscheinen usw. zuständig.
Dass dies damals keine leichte Aufgabe war und die Behörde vor große Probleme stellte, bezeugen zwei Schreiben, die der Landrat des Kreises Limburg  Walter Dannhausen  am 8. und 22. Juni 1946 an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden richtete. Eindringlich schil­derte er die Lage der Ausgewiesenen und die Schwierigkeiten bei der Unterbringung. Er wies auf die allzu kurzfristigen Benachrichtigungen über die ankommenden Transport­züge mit jeweils mehreren hundert Personen hin.
Die heute 95jährige Witwe Erna Schindler aus Dehrn (lebt jetzt im Villmarer Altenheim) erinnert sich 1996 noch gut an den Aufenthalt im Lager in Villmar im Oktober 1946. Wie viele ihrer Landsleute wurden Erna und ihr Gatte Erich mit ihrem sechs Wochen alten Baby Brigitte und dem drei Jahre alten Sohn aus der Heimat (Asch) im Sudetenland vertrieben. Menschenunwürdig in überfüllte Viehwaggons gepfercht, kamen sie nach mehreren Tagen Eisenbahnfahrt am Villmarer Bahnhof an.

Nach einigen Tagen Lageraufenthalt erfolgte ihre Zuweisung in die Gemeinde Dehrn, wo ihnen als erstes eine kleine Wohnung zugeteilt wurde.

Erna Schindler, die einen Meisterbrief als Stickerin und Näherin vorweisen konnte, hatte übrigens den Mut, schon nach fünf Jahren in dieser Branche in Dietkirchen ein Geschäft zu eröffnen, ein deutliches Zeichen der Integration in ihrer neuen Heimat. In ihrem Familien­betrieb beschäftigte sie zeitweise bis zu 35 Frauen. Für den Männerchor „Quartettverein" Villmar fertigte sie schon 1957, wenige Jahre nach Geschäftseröffnung, die erste Vereins­fahne mit der Matthias und Valeriuspforte als Emblem. Ihren Lebensabend verbrachte die Betagte im eigenen Hause mit der Familie ihrer Tochter Brigitte Thorn in Dehrn. In Erinnerung geblieben ist auch bei den Angehörigen eines im Oktober 1946 im Lager an­gekommenen Transportes der eindrucksvolle Gottesdienst, den der mitausgesiedelte ka­tholische Pfarrer Butzer aus Bad Königswart als Dank für die überstandene unmenschliche Vertreibung und die wiedererlangte Freiheit in Villmar zelebrierte. Nach einer Zusammenstellung über die Durch und Teildurchgangslager und ihrer Belegungsmöglichkeiten, die im Regierungsbezirk Wiesbaden eingerichtet waren, konn­ten im Lager Villmar ca. 500 Personen vorübergehend aufgenommen werden. Beauftragte des Hilfswerkes der evangelischen Kirche Deutschlands besuchten am 17. Dezember 1946 im Rahmen einer Informationsfahrt alle Aufnahmelager des Bezirkes, somit auch das hiesige Lager. Als Ergebnis wurde vermerkt: „Lager Villmar, gut erhaltene Baracken, aber keine einzige Glühbirne vorhanden. Zur Zeit leben 50 Personen da, Verpflegung gut und ausreichend." In der Zeit vom 14. bis 20. Januar 1947 erfolgte zum letzten Male eine Besichtigung und Überprüfung der Lager durch Beamte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden. Im Abschlußbericht vom 21. Januar 1947 heißt es dazu: „LANDKREIS LIMBURG. Lager Villmar nicht belegt. Außerdem wurden alle Flüchtlingskommissare aufgefordert, die Lager unbedingt zu räumen und leer zu halten." Dieses Verlangen erfolgte auf Anweisung der US-Militärregierung von Hessen.

Die ersten Ausgewiesenen für die Gemeinde Villmar

Am 17. April 1946 brachten Lastkraftwagen 75 vertriebene Sudetendeutsche, überwie­gend aus Joslowitz, in das Lager Villmar. Sie kamen mit einem in Niederösterreich zusam­mengestellten Transportzug, menschenunwürdig in Viehwaggons verfrachtet, nach meh­reren Tagen mit Zwischenstopps in Wien, Melk, Passau und Weilmünster hier an. Im Marktflecken Weilmünster war das Durchgangslager für Vertriebene (ein ehemaliges Arbeitsdienstlager), die im Oberlahnkreis unterge­bracht wurden. Mit Hilfe der Gemeindeverwaltung bezogen einige umgehend bereitge­stellte Wohnungen bei heimischen Familien. Mehrere Ausgewiesene fanden zunächst für einige Tage im Lager Unterkunft. Zeitzeugen erinnern sich nach 60 Jahren: „Nicht immer schlug uns Heimatlosen Wohlwollen entgegen. Egoismus und mangelndes Verständnis einzelner Hausbesitzer machten die zwangsweise Unterbringung unter Inanspruchnahme der Polizei notwendig. Erfreulicherweise gaben Behörden und Gemeindebürger uns Obdachlosen (man stelle sich vor: vertrieben, ausgeraubt, heimatlos und unwillkommen) Hilfe und Unterstützung im Rahmen der damaligen Möglichkeiten." Mehr als 550 Vertriebene und Flüchtlinge fanden schließlich in Villmar ein neues Zuhause. Viele bereits Verstorbene und heute noch Lebende von ihnen haben durch ungewöhnlichen Fleiß und Mut Eigentum erworben und neu­en Wohnraum geschaffen. Ihre Aktivitäten im kommunalen und kulturellen Bereich sind deutliche Zeichen der Integration als Bürger ihrer heutigen Gemeinde. Der BVD-Ortsverband Villmar hat , im Benehmen mit seinem Kreisverband Heimat Limburg-Weilburg zur Erinnerung an die Vertreibung vor 50 Jahren 1996 eine Statue des hl. Nepomuk und eine Erinnerungstafel fertigen lassen.

Die Aufstellung erfolgte auf der hiesigen Lahnbrücke, die sich in der Nähe des früheren Durchgangslagers befinde. Als Zierde der Marmorbrücke symbolisiert der Prager Brückenheilige die Erinnerung an die angestammte Heimat und an den Weg tausender vertriebener Lagerinsassen, deren Gang über diese Brücke in die Freiheit führte. .


Abb. Rotekreuzhelferinnen, die  Ankunft der Ausgewiesenen im Durchgangslager Villmar tätig waren, Vorne v. rechts: Hilde Brahm, Leni Flach, Else Löv.


1956  Lahnbahn. Die Transportzüge mit Flüchtlingen kamen von Gießen, im Bild rechts, bis zum Bahnhof Villmar und wurden wenige Metern weiter in den im Steinbruch vorhandenen Baracken untergebracht











Erinnerung an die 50 Jahrfeier des BVD Villmar mit den Zeitzeugen Elfi Caspari geb. Pinz (+2005) sowie Franz Krotzky mit Altbürgermeister Hubert Aumüller (Bildmitte), der als Verwaltungsangestellter der Gemeinde Villmars, 1946 die Vertriebenen betreute.